Unternehmen

Wissen wird mehr, wenn es geteilt wird! Gute Praxis, betriebliche Lösungen zur Vereinbarkeit und fachliches Know-How stehen hier in diesem Sinne zur Verfügung. Lesen und profitieren!

Im Unternehmen ist es kein Geheimnis, dass auch der geschäftsführende Gesellschafter Ralf Stoffels persönliche Erfahrung mit der Pflege Angehöriger gemacht hat. Aber neben Engagement und Glaubwürdigkeit der Führung brauchen kluge Strategien zur Unterstützung der Beschäftigten bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf eine systematische Umsetzung. Für einen Weltmarktführer wie BIW ist das eine ganz normale Herausforderung.

Für die Personalreferentin Nadine Hallenberger war das Ergebnis der Mitarbeiter/innen-Befragung in 2012 eine angenehme Überraschung: Über 50 Prozent nutzten den Fragebogen zum Thema Vereinbarkeit von Pflege und Beruf und gaben bereitwillig Auskunft. Einige von ihnen meldeten sich sogar persönlich und lobten die Befragung, denn viele kennen das Problem in der eigenen Familie oder im Bekanntenkreis. Anders als beim Thema Kinderbetreuung betrifft dieses Vereinbarkeitsproblem demografisch bedingt einen großen Teil der Belegschaft.

In der anschließenden Betriebsversammlung gaben Geschäftsleitung und Betriebsrat die Beteiligung von BIW an der Kampagne des Ennepe-Ruhr-Kreises und die Ernennung von Nadine Hallenberger zur Pflegebeauftragten bekannt.

„Im Moment gibt es einige Mitarbeiter/innen, von denen wir wissen, dass sie einen Elternteil pflegen. Sie nutzen dafür vor allem unsere flexiblen Arbeitszeiten“, erläutert die Personalreferentin: „Aber eine einfache Demografieanalyse zeigt uns, dass wir noch besser vorbereitet sein müssen.“ Knapp 50 Prozent der Beschäftigten bei BIW sind über 40 Jahre alt, erfahrene Mitarbeiter/innen, auf die ein flexibles Unternehmen mit Kunden in der ganzen Welt nicht verzichten kann und will. Konkurrenzfähig ist BIW auf dem Weltmarkt nur, weil es schnell auf Kundenwünsche reagieren kann und gute Qualität liefert. Zwei Ziele, so Ralf Stoffels, habe er sich darum mit hoher Priorität vorgenommen: „demografiebewusste Personalentwicklung und Qualifizierung der un- und angelernten Kräfte.“ Die Konkurrenz schläft nicht – wer als Arbeitgeber attraktiv und konkurrenzfähig bleiben wolle, müsse sich jetzt bewegen. Gut, wenn man Vorreiter ist und damit dem einen oder anderen Mitbewerber voraus. Dies sei auch bei den Beschäftigten angekommen, ist sich Nadine Hallenberger sicher. Es gebe ihnen eine gewisse Sicherheit, wenn der Pflegefall zuhause eintreten sollte: „Bei BIW ist das kein Tabuthema.“

Vereinbarkeit und mehr

Die Unterstützung der Beschäftigten bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf kann auf Erfahrungen beim Thema Familie und Beruf zurückgreifen. Zwar ist der geplante Betriebskindergartens nicht auf die Situation der häuslichen Pflege (älterer) Angehöriger übertragbar. Ableiten aber lassen sich flexible und individuell angepasste Arbeitszeitregelungen, die Verortung des Themas bei der Personalreferentin Nadine Hallenberger und eine regelmäßige Informationspolitik, die es nicht beim einmaligen Aufschlag in Form einer Kampagnenbeteiligung belässt.

An den Büroarbeitsplätzen bei BIW ist eine flexible Arbeitszeitgestaltung kein großes Problem: Hier kann vor– oder nachgearbeitet werden. Aber auch für den laufenden Produktionsbetrieb wird den Mitarbeitenden für den Krisenfall angeboten, die Schichten nach ihren Bedürfnissen wählen zu können. Mit Protesten der Kollegen, die darauf dann Rücksicht nehmen müssen, sei nicht zu rechnen, ist Nadine Hallenberger überzeugt, denn: „Sie wissen, wie groß der psychische Druck ist, und dass es jeden treffen kann!“

Verknüpft ist das Thema auch mit dem betrieblichen Gesundheitsmanagement. Die bekannten Begleiterscheinungen des Alterns – Rückenprobleme, Herz/Kreislaufbeschwerden – beeinträchtigen nicht nur das Wohlbefinden, sondern wirken sich negativ auf die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz aus. Mitarbeiter/innen bei BIW können darum beispielsweise die Angebote eines Fitnessstudios in Schwelm kostenlos nutzen, weil BIW die Kosten übernimmt, und auch im betrieblichen Alltag an diversen Angeboten teilnehmen.

Nicht alle Initiativen des betrieblichen Gesundheitsmanagements kommen allerdings bei den Beschäftigten so gut an, weiß auch Nadine Hallenberger. Zwar gingen viele Mitarbeiter zum Training ins Studio, weil sie es sowieso tun würden, aber „einige Sonderaktionen - wie zum Beispiel Nichtrauchertrainings oder Mobilitätsprüfungen – werden nicht sehr intensiv genutzt.“ So mancher scheint zu befürchten, dass negative Ergebnisse von individuellen Tests der Firmenleitung bekannt werden und Konsequenzen folgen könnten, auch wenn der Datenschutz streng eingehalten wird. Nadine Hallenberger ist darum überzeugt: „Wenn jedoch glaubwürdig erfahrbar ist, dass das betriebliche Gesundheitsmanagement ebenso wie die Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf aus Verantwortung für die Beschäftigten und den Unternehmenserfolg geschieht, dann erhöht sich auch die Akzeptanz für zunächst verunsichernde Maßnahmen als Teil einer Unternehmenskultur.“

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„In dieser Branche ist kein Tag wie der andere und gute Mitarbeiter/innen werden immer gesucht. Ambulante Pflege ist Frauensache“, anstrengend, gesellschaftlich zu wenig geachtet - und elementar für den demografischen Wandel.
Wie kann das gehen: gute professionelle Pflege anbieten - wenn der private Alltag der Mitarbeiter/innen unberechenbar wird, weil sie selbst pflegebedürftige Angehörige versorgen müssen? Jürgen Kern, Geschäftsführer der FAN, setzt auf eine Unternehmenskultur der offenen, aber strukturierten Kommunikation.

Die alten und behinderten Menschen, bei denen die Pflegekräfte der FAN zu Gast sind, merken Spannungen sofort. Sie reagieren wie ein Seismograph auf Hektik oder schlechte Laune, brauchen nicht nur eine gute körperliche Versorgung, sondern Zuwendung und Kommunikation. Nicht nur mit Blick auf die Kunden und Kundinnen setzt Jürgen Kern, Geschäftsführer der FAN, darum auf eine Unternehmenskultur der offenen Kommunikation – auch beim Thema Vereinbarkeit. „Pflege ist weiblich“, stellt er nüchtern fest, „viele unserer Mitarbeiterinnen haben Kinder, sind alleinerziehend, haben Angehörige zu pflegen. Also müssen wir uns etwas einfallen lassen.“
Hinzu kommt: In der Pflege werden Mitarbeiter/innen dringend gesucht – die Guten, so Jürgen Kern, müsse man halten, denn es gibt nicht genug.

Kommunikationsregeln

Die FAN hat vor fünf Jahren im Rahmen einer Potenzialberatung auch das Thema Mitarbeiterinnen- und Kundenzufriedenheit bearbeitet. Ein Ergebnis ist die Strukturierung einer offenen, schnellen und geregelten Kommunikation, um auf Veränderungen im Leben der Kund/innen, aber auch der Mitarbeiter/innen schnell und gezielt reagieren zu können.

In der FAN, mit 110 Mitarbeiter/innen, zahlreichen ehrenamtlichen Kräften und sieben Fachbereichen, können wichtige Dinge nicht informell zwischen Tür und Angel besprochen werden, aber allzu formell darf die Kommunikationskultur auch nicht sein. Festzulegen, wer mit wem wann reden muss, damit Probleme schnell gelöst werden, ist ebenso wichtig wie die Ermutigung zum offenen Gespräch. Auch wenn Regelungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in einem Betrieb wie der FAN von Anfang an gefunden werden mussten, braucht es weitere, stetige Impulse für die Veränderungen im Lebensverlauf der Beschäftigten, hat Jürgen Kern erkannt: „Die Situationen ändern sich oft und schnell. Da kann es passieren, dass in einem Team der Mann einer Kollegin im Sterben liegt und kurze Zeit später bei einer anderen die Mutter ein Pflegefall wird. Es gibt darum nicht die Ideallösung, wir müssen jeden Tag neue individuelle Lösungen finden.“

Da kann auch kurzfristig ein Auto ausgeliehen werden, um den Vater im Krankenhaus zu besuchen. Da kann der Dienst eine Zeit lang auch erst um acht Uhr beginnen, wenn davor die schwerkranke Mutter versorgt werden muss. Sogar der Samstag kann für eine besonders belastete Mitarbeiterin frei bleiben, obwohl ambulante Pflege eine Sechs-Tage-Versorgung bedeutet. Und im Notfall ist auch ein Vorschuss aufs nächste Gehalt möglich.
Was nicht geht, ist Schweigen. Auch in der FAN hat es lange gedauert, eine offene und produktive Kommunikationskultur zu entwickeln - die zudem täglich neu erarbeitet werden muss. Keine/r soll wochenlang niedergeschlagen im Dienst erscheinen oder sich krank melden, bevor jemand ihn/sie anspricht. Niemand sollte seine Sorgen mit sich alleine ausmachen und in Auswege wie Krankmeldung flüchten, statt rechtzeitig zu reden.
Wer im Krisenfall für andere mit einspringen soll, hat ein Recht auf Ehrlichkeit. Und wer professionelle Verantwortung als Pflegekraft übernimmt, muss auch erwachsen mit der eigenen Situation umgehen können.

Familienbande

Denn das ist vielleicht das größte Missverständnis: professionelle Pflegekräfte sind nicht per se die besseren pflegenden Angehörigen – auch wenn sie pflegerische Standards beherrschen und sich mit dem Pflegesystem auskennen. Als Angehörige stecken sie in demselben Dilemma wie andere auch, sind verwickelt in familiäre Erwartungen und Abhängigkeiten und oft allein gelassen mit den Problemen, Beruf und Sorge zu vereinbaren. Einige davon sind im Job, mithilfe der Kolleginnen und Vorgesetzten lösbar, wie das Beispiel der FAN zeigt. Jürgen Kern kennt die Auswirkungen der Familiensysteme rund um das Thema Pflege gut genug, um zu wissen, welche Belastungen und Dynamiken sich da entfalten. Das hilft beim Verstehen und Handeln und sorgt für die nötige Distanz: „Wir wollen von unseren Mitarbeiter/innen ja gar nicht alles wissen. Aber wir wollen auch keine vermeidbaren Störungen bei der Arbeit.“

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Eine Einrichtung der Erwachsenenbildung, in der die Beschäftigten so flexibel und kundenorientiert arbeiten müssen wie in einem Hotel: Das Bildungszentrum der IG-Metall in Sprockhövel ist nicht nur als reibungslos funktionierende Tagungsstätte ein Schaufenster der Gewerkschaft. Die Gäste sind in der Regel Kolleg/innen und achten auch darauf, wie glaubwürdig die gewerkschaftlichen Ansprüche im „eigenen“ Betrieb umgesetzt werden. Schulleiter Fritz Janitz will, dass die Gesamtbetriebsvereinbarung der IG-Metall zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf aktiv gelebt wird. Die Beteiligung an der Kampagne des Ennepe-Ruhr-Kreises hilft dabei als erneuter Katalysator.

Rund 13.000 Gewerkschafter/innen und Trainer/innen erleben jedes Jahr den Tagungsbetrieb des IG-Metall Bildungszentrums in Sprockhövel. Sie setzen sich im gesamten Bundesgebiet in den Betrieben aktiv für die Rechte der Beschäftigten ein, beteiligen sich an Kampagnen gegen Leiharbeit oder Werkverträge. Und wissen, dass ihre Gewerkschaft darum ein Vorbild sein sollte. Also prüfen nicht wenige an ihren Seminartagen in Sprockhövel auch den Service, die Arbeitsbedingungen und das Betriebsklima der eigenen Organisation. Dieses „zweite Seminar“ ist ein Glaubwürdigkeitstest für die Organisation, weiß Betriebsrätin Christina Flügge: „Die fragen dann auch abends das Thekenpersonal: Welchen Vertrag hast du denn? Wie geht es dir hier?“

Auffrischung

Schulleiter Fritz Janitz nutzt die Beteiligung des Bildungszentrums an der regionalen Kampagne „arbeiten, pflegen, leben“, um die Gesamtbetriebsvereinbarung der IG-Metall von 2009 erneut in den Fokus zu rücken. Auch wer (noch) nicht betroffen ist, sollte wissen, dass er/sie als Beschäftigte der IG-Metall zum Beispiel Anspruch auf fünf bezahlte Freistellungstage hat, und nicht nur die gesetzlich geregelten zehn Tage für die Pflege Angehöriger frei nehmen kann. Eine Betriebsvereinbarung müsse mit Leben gefüllt werden und überzeuge nur dann, wenn vor Ort Fälle gut gelöst werden, ist Betriebsrätin Christina Flügge überzeugt: „Bundesweit hat die IG-Metall 160 Verwaltungsstellen, sieben Bildungsstätten, die Vorstands-Verwaltung in Frankfurt, Bezirksleitungen und andere Organisationseinheiten. Eine Betriebsvereinbarung ist wie ein Dach - man muss vor Ort die Räume füllen. Das ist jetzt mit Beteiligung an dieser Kampagne im Ennepe-Ruhr-Kreis in Schwung gekommen.“ Die Plakate sind gut sichtbar im Haus platziert, im Rahmen einer Betriebsversammlung wurden die Mitarbeiter/ innen über die Beteiligung informiert und an die Betriebsvereinbarung erinnert. Mit Petra Böhm wurde eine erfahrene Kollegin als Ansprechpartnerin für Pflege und Beruf benannt. Bislang konnten die wenigen Fälle individuell gut gelöst werden, erläutert sie, aber mit einer älter werdenden Belegschaft werde es ein Thema für viele – und: „Je zufriedener die Belegschaft ist, desto besser funktioniert die Zusammenarbeit.“ Sie achtet darauf, dass Kolleg/innen angesprochen werden, bevor sich Belastungen zuspitzen und ist mit ihrem Arbeitsplatz am Empfang des Bildungszentrums ohne großen Aufwand ansprechbar. Entscheidend sei die Bereitschaft individuelle Lösungen zu finden – wie für den Kollegen, der sich mit seinem Bruder die Pflege der Eltern teilt und dazu am Montagmorgen bei Bedarf später anfangen kann.

Gute Arbeit braucht gute Arbeitsbedingungen. Wer ohne Angst nach Lösungen fragen kann, wenn es zuhause eng wird, kann entspannter mit den Arbeitsbelastungen umgehen. „Wir organisieren Tagungen und Konferenzen mit allen möglichen Sonderwünschen“, erläutert Fritz Janitz den Seminar- und Hotelbetrieb des Bildungszentrums: „Das sind extrem hohe Anforderungen mit Überstunden und flexiblen Arbeitszeiten. Wer da mitzieht und hilft, dass wir das hinkriegen, der hat es auch verdient, dass wir helfen, wenn es auf der privaten Seite Probleme gibt.“

Gesundheitsmanagement

Im November 2012 haben Vorstand und Gesamtbetriebsrat der IG-Metall Eckpunkte für ein betriebliches Gesundheitsmanagement beschlossen. Auf dieser Grundlage sind eine Reihe neuer Angebote und Maßnahmen entwickelt worden – auch zur Unterstützung der Beschäftigten bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In der IG-Metall- Zentrale in Frankfurt ist seitdem eine Gesundheitsmanagerin angestellt, die auch zum Thema Pflegeorganisation berät und Informationen bündelt.

Fritz Janitz verbindet mit der Beteiligung an der Kampagne eine weitere strategische Überlegung. Er hofft mit gleichgesinnten Unternehmen und Organisationen auch Druck auf das Versorgungssystem ausüben zu können, dessen eklatante Lücken die Betroffenen und auch die Betriebe ausbaden müssen: „Ich habe eine Mitarbeiterin erlebt, die zur Unterstützung bei der Sorge um ein todkrankes Kind dringend akute psychologische Hilfe gebraucht hätte. Nach Wochen bekam sie gerade mal einen Beratungstermin. Ihr Arzt hat sie aus Hilflosigkeit für längere Zeiten krank geschrieben. Eine gute Lösung sähe anders aus.“

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Von einer Verwaltung erwarten Bürger/innen ebenso gute Dienstleistungen wie von einem Unternehmen. Von seinen Mitarbeiter/ innen erwartet der Bürgermeister der Stadt Gevelsberg, Claus Jacobi, dass sie mitteilen, wenn ihnen die private Sorge für Angehörige über den Kopf wächst und Vorschläge machen, wie man sie noch besser unterstützen könnte. Dafür hat er sich zu einer aktiven Strategie entschlossen.

Immerhin fünf Seiten lang war der Fragebogen, den die Beschäftigten der Stadt Gevelsberg im Oktober 2013 aus dem Bürgermeisterbüro zugeschickt bekamen – mit ausführlichen Fragen zur privaten Vereinbarkeitssituation und der Bitte um Vorschläge zur weiteren Unterstützung durch den Arbeitgeber. Von 365 Fragebögen kamen 146 zurück – eine beachtliche Quote von rund 40 Prozent, die beweist, dass der Bürgermeister Claus Jacobi mit seiner Strategie richtig liegt: Handeln statt Abwarten. 50 der Befragten gaben an, aktuell in die Pflege/Sorge für Angehörige eingebunden zu sein oder in den vergangenen drei Jahren gepflegt zu haben – davon 30 Frauen und 20 Männer. Christel Hofschröer, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt, hat der hohe Anteil der Männer nicht überrascht – sie war im Netzwerk W aktiv an der Konzeption der Kampagne „arbeiten, pflegen, leben“ beteiligt, die von Anfang an auch Männer ansprach. In ihrer Stadtverwaltung hat sie die Gründung einer Arbeitsgruppe „Familienbewusste Personalpolitik“ angeregt, die im Frühjahr 2013 mit der Entwicklung des Fragebogens ihre Arbeit aufnahm.

60 Arbeitszeitmodelle

Listet man die bereits installieren Unterstützungsangebote auf, dann könnten sich der Bürgermeister und die Mitglieder der Arbeitsgruppe entspannt zurücklehnen: Beschäftigte können unter 60 verschiedenen individuellen Arbeitszeitregelungen wählen, haben Anspruch auf zwei Stunden Dienstbefreiung für die Bewältigung spontaner Krisen in der Betreuung/ Pflege und können sich im Seniorenbüro wie alle Bürger/innen zum Thema Pflege beraten lassen. „Es gibt dennoch genug zu tun“, sagt Christel Hofschröer. Das belegt auch die Auswertung des Fragebogens: Viele scheuen sich bisher, am Arbeitsplatz und gegenüber Vorgesetzten offen über ihre Belastungen zuhause zu sprechen, finden aber die Initiative für mehr Familienfreundlichkeit im Unternehmen gut. Viele haben weitere Vorschläge zur besseren Unterstützung – angefangen von Arbeitsbefreiungen in Krisensituationen über noch mehr Flexibilität in der individuellen Arbeitszeitgestaltung in allen Variationen und Phasen ihres Lebens bis hin zur teilweisen Heimarbeit. „Entscheidend aber ist das Signal der Führung: Das Thema ist uns wichtig.“

Betriebliche und private Vorsorge

Claus Jacobi will mehr Mitarbeiterzufriedenheit durch eine familienbewusste Personalpolitik erreichen. Dazu aber müssten die Beschäftigten am Arbeitsplatz offen mit den privaten Belastungen umgehen. Stress und häufige Krankmeldungen sind nicht immer und unbedingt Folge von Arbeitsüberlastung, sondern oft genug auch privater Beanspruchung, zum Beispiel bei der Pflege Angehöriger. Der Bürgermeister Jacobi will, dass „alle Beschäftigten wissen, dass Offenheit bei diesem Thema erwünscht ist. Umgekehrt erwarte ich von den Vorgesetzten, dass sie Pflegeverantwortung von Mitarbeitenden nicht als Schwäche, sondern als Stärke verstehen. Das ist der eigentliche Sinn unserer Kampagne.“ Auch könne man für den öffentlichen Dienst Mitarbeiter /innen nicht etwa durch die Verlockungen extremer Bonuszahlungen gewinnen, sondern durch sichere Arbeitsplätze und eine familienbewusste Personalpolitik – Werte, die längst auch bei vielen jungen Männern hoch im Kurs stehen.

Susanne May ist eine der Beschäftigten, deren private Sorgearbeit sich als Stärke an ihrem Arbeitsplatz auswirkt: Sie arbeitet als Beraterin im Seniorenbüro der Stadt, pflegt zuhause Mutter und Schwester und ist folgerichtig Mitglied der Arbeitsgruppe Familienbewusste Personalpolitik. Mit ihrem aktuellen Antrag einer Stellenreduzierung auf 30 Stunden hat sie rechtzeitig reagiert, um einem Burnout vorzubeugen. Mutter und Schwester sind nicht mobil, können die Wohnung ohne Hilfe nicht verlassen und brauchen die Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes. Susanne May ist für alles andere zuständig - sie organisiert die häusliche Versorgung, begleitet bei Arztbesuchen und kümmert sich um Anträge und Finanzen der beiden. Selbstkritisch gibt sie zu, dass auch sie lange gezögert habe, bis sie mit dem Antrag auf eine Reduzierung ihrer Stelle den Umfang der privaten Belastung offenbarte: „Meistens macht man es erst, wenn es zuhause sehr knapp wird – und nur, wenn das Vertrauen zum Vorgesetzten da ist.“

Anpassungen

Auch Ursula Schöneweiß, Stv. Abteilungsleiterin Organisation, EDV und Personal, hat in der Arbeitsgruppe den Fragebogen mitentwickelt und darauf geachtet, dass alle Beanspruchungen der häuslichen Sorge erfragt wurden.

Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass Pflegebedürftigkeit ein schleichender Prozess steigender Belastungen ist, der mit scheinbar einfachen Verantwortlichkeiten beginnt. Sie selbst hat auf das Verständnis und die Unterstützung von Kolleg/innen setzen können, auch in ihrer Zeit als Mitarbeiterin im Jobcenter mit permanentem Publikumsverkehr und hohen Fallzahlen. In der Arbeitsgruppe haben sie zahlreiche Arbeitsplatzsituationen besprochen und wissen, dass es noch nicht für alle Tätigkeiten spezifische Lösungsansätze gibt: Wie ließe sich beispielsweise der Ausfall eines Müllwerkers oder Streuwagenfahrers im Team organisieren, wenn plötzlich ein Notfall-Anruf von Zuhause kommt?

Mit der ersten Fragebogenaktion hat die Stadtverwaltung Gevelsberg nicht nur einen aktuellen Eindruck von der Situation pflegender Angehöriger bekommen, sondern auch neue Vorschläge für weitere Initiativen und Instrumente. Ob es in naher Zukunft reservierte Parkplätze für pflegende Mitarbeiter/innen geben wird oder in ein paar Jahren die Möglichkeit zur Heimarbeit, wird sich zeigen. Die Gleichstellungsbeauftragte Christel Hofschröer und der Bürgermeister Claus Jacobi sind sich jedoch einig: Als öffentlicher Arbeitgeber hat man Vorbildfunktion. Claus Jacobi: „Ich kann nicht bei Unternehmen für diese Kampagne werben, wenn wir uns als Verwaltung nicht auch selber beteiligen!“

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