Kampagnen-Idee

Die Kampagne „arbeiten – leben – pflegen“ im Ennepe-Ruhr-Kreis war eine der ersten Initiativen in NRW, die das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Pflege aufgegriffen und Unternehmen wie Beschäftigte in der Region gezielt angesprochen hat. Ideengeber/-innen waren auch die Betroffenen selbst: berufstätige Eltern, die zugleich pflegende „Kinder“ ihrer alten Eltern waren und deren Probleme kaum Gehör fanden.

„Lösungen zu finden kann nicht allein Aufgabe der Unternehmen sein oder individuell den einzelnen Betroffenen überlassen werden. Mit der Kampagne wollten wir deutlich machen: Vereinbarkeit von Beruf und Pflege ist keine reine private Angelegenheit.“ So beschreibt Christa Beermann, Demografiebeauftragte des Ennepe-Ruhr-Kreises das Anliegen der Kampagne, die 2012 durch das Netzwerk W(iedereinstieg) initiiert wurde. Anders als die zunehmend thematisierte Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf ist das Thema Pflege in den Unternehmen noch keineswegs selbstverständlich. Aber bei den konkreten betrieblichen Lösungen gibt es eine Reihe von Überschneidungen, etwa flexible Arbeitszeiten oder Telearbeit. Vereinbarungsfreundliche Arbeitsorganisation muss also nicht neu erfunden werden.

Glaubwürdige Öffentlichkeitsarbeit

Die Kampagne „arbeiten-pflegen-leben“ startete 2012 im Ennepe-Ruhr-Kreis, initiiert durch das Netzwerk W(iedereinstieg). Auf Postkarten und Plakaten sowie im Internet (www.arbeiten-pflegen-leben.de) treten Unternehmen und pflegende Angehörige offensiv für das Thema Vereinbarkeit ein. Die Unternehmen verpflichten sich zur Unterstützung pflegender Beschäftigter mit dem Motto: „Sie pflegen? Wir unterstützen sie“. Pflegende machen anderen Pflegenden Mut mit persönlichen Statements wie „Ich pflege meine Mutter“. Beide Seiten tragen so dazu bei, für die Belastungen der Betroffenen zu sensibilisieren, und sie zeigen: Das Thema braucht Öffentlichkeit, um Unternehmen zum Handeln zu bewegen. Inzwischen ist aus der Kampagne eine Regionalinitiative geworden, in der Unternehmen sich vernetzen, zum Informations- und Erfahrungsaustausch treffen und gemeinsam neue Ideen und Angebote entwickeln. Dafür gewann die Kampagne im Oktober 2015 den ersten Preis im Rahmen des Ideenwettbewerbs Kooperation Ruhr „Demografischer Wandel als Fortschrittsfaktor“ als „Projekt, das Modell und Vorbild für die gesamte Region ist“.

Glaubwürdigkeit und langer Atem

Wer eine solche Kampagne initiiert, braucht einen langen Atem, muss gut vernetzt sein und überzeugen – ganz gleich, ob Unternehmen oder pflegende Angehörige mit „Vereinbarkeitsproblem“. Am Anfang standen zahlreiche Veranstaltungen und eine Reihe von Plakat- und Postkartenmotiven, die reale pflegende Frauen und Männer zeigen sowie beispielhafte Unternehmen - präsentiert in allen kreisangehörigen Städten, öffentlichen Institutionen und Einrichtungen wie Rathäusern, Büchereien, Beratungsstellen, Wirtschaftsförderung oder den Kammern. Immer begleitet durch eine aktive Medienarbeit – auch überregional. Ein Leitfaden zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, Antworten auf die wichtigsten Fragen eine Praxismappe für Unternehmen sowie die regelmäßige Schulung von Ansprechpersonen gehören zum Serviceangebot der Kampagne.

Maßnahmen und Wirkungen

Aus der Kampagne entstand nach und nach eine nachhaltige Aktion samt Netzwerk mit praxistauglichen Angeboten. Längst sind aus den angestrebten 20 Unternehmen fast 30 geworden, die sich der Kampagne anschlossen (Stand: November 2016) und mit einer Selbstverpflichtung verbindlich bereit erklären, in Sachen Vereinbarkeit von Beruf und Pflege aktiv zu werden und betroffene Beschäftigte engagiert zu unterstützen.
Beeindruckend auch die Vielfalt der Branchen - Industrie, Verwaltung, Bildung, Pflege, medizinische Versorgung, Wohnungsbau, Finanzen und Energie.
Wichtigste Erstmaßnahme in einem Unternehmen ist die Beauftragung einer betriebsinternen Ansprechperson – eine „Lotsin“, einen „Lotsen“ – für pflegende Beschäftigte. Gemeinsam mit den Beschäftigten kann dann im Unternehmen nach Lösungsmöglichkeiten gesucht werden – unter anderem durch eine gezielte Befragung der Belegschaft. Die „Lotsen/Lotsinnen“ im EN-Kreis erhalten umfängliches Informationsmaterial und können die kooperierenden kommunalen Pflegeberatungsstellen oder die Pflegekoordinatorin des Kreises zu Betriebsversammlungen einladen und für Vorträge (kostenlos) buchen. Kreisweite Veranstaltungen sorgen für Information, Austausch und Vernetzung. Die Website www.arbeiten-pflegen-leben.de wird fortwährend aktualisiert und das Informationsmaterial stetig weiterentwickelt.

Bedenken – leicht auszuräumen

Arbeitgeber/-innen wissen oft nicht, welche Handlungsmöglichkeiten sie haben und befürchten teure und organisatorisch aufwändige Einzelfall-Lösungen. Diese Angst ist unbegründet, denn Beschäftigte gehen in der Regel mit der Situation sehr verantwortlich um. Eher schon bleiben pflegende Angehörige „in Deckung“, outen sich nicht aus Sorge, am Arbeitsplatz möglicherweise Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Der „Tabubruch“ beim Thema Pflege und Beruf sollte also von der Unternehmensleitung ausgehen: das Thema offen ansprechen, sachlich, engagiert, ohne Scheuklappen.

Höchste Zeit zu handeln…

Über eine halbe Million Menschen sind in NRW pflegebedürftig, die meisten von ihnen werden zu Hause betreut, zu fast 50 Prozent von berufstätigen Angehörigen 1.
Die Hälfte der Berufstätigen, die gleichzeitig eine Pflegeaufgabe übernehmen, arbeitet sogar in Vollzeit. Betroffen sind in erster Linie Frauen, denn etwa 75 Prozent aller pflegenden Angehörigen sind weiblich, davon immerhin knapp 35 Prozent im erwerbsfähigen Alter. Für Beschäftigte wie Arbeitgeber sind das sehr reale Herausforderungen.
Wenn der Pflegefall eintritt, reduziert etwa die Hälfte der Beschäftigten ihre Arbeitszeit 2, meist um fünf bis zehn Wochenstunden. Knapp 20 Prozent geben ihre Arbeit vollständig auf – mit den entsprechenden Folgen für das aktuelle Einkommen und für die spätere Absicherung im eigenen Rentenalter.
Es braucht also dringend familienfreundliche Personalkonzepte, um auch in dieser Situation erfahrene und kompetente Fachkräfte in Unternehmen zu halten.

… in Netzwerken vor Ort

Die Last der Organisation liegt nicht allein auf den Schultern der Betroffenen oder bei den einzelnen Unternehmen. Für gute Rahmenbedingungen in einem Ort, einer Region braucht es zum Beispiel gute Strukturen mit einer funktionierenden Nachbarschaft im Quartier, sachkundige und gut vernetzte Mitarbeiter/-innen in Arbeitsagenturen oder Jobcentern, braucht es Pflegeberatungsstellen, Kinderbetreuungseinrichtungen oder auch kommunale Integrationszentren für das Thema interkulturelle Pflege. Auch so unterschiedliche Welten wie die der Unternehmen und der Freien Wohlfahrtspflege müssen bessere Kontakte zueinander aufbauen.
Im Ennepe-Ruhr-Kreis ist – auch dank der Kampagne – das dazu notwendige Netzwerk sehr breit aufgestellt. So werden Synergien möglich.

Quelle: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK) e. V. (Hrsg): Vereinbarkeit von Beruf und Pflege.
Wie Unternehmen Beschäftigte mit Pflegeaufgaben unterstützen können, Berlin, Juli 2014

Quelle: Sonja Nowossadeck, Heribert Engstler & Daniela Klaus: Pflege und Unterstützung durch Angehörige.
Report Altersdaten 01/2016. Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg). Berlin 2016